Ein Bottom-Up Prozess
Das Angebot für die Mitarbeiter der Polizeidirektion Braunschweig ist wohl ein Lichtblick im öffentlichen Dienst. Ein kleines, visionäres Team hat dort ein ganzheitliches Programm entwickelt, das für uns Vorbildcharakter hat. Der interne Reformprozess in der Polizei Niedersachsen begann 1994. Im Zuge dieser Polizeireform entstand Offenheit auch für ungewöhnliche Neuerungen. Das machte den Weg frei für einige engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Organisationsentwicklungs- und Coachingprozesse in ihren Arbeitsplatz tragen wollten.
Das kleine Team von Polizisten holte sich extern Inspiration für den neuen Prozess. Es entstand die Idee, einige Trainer aus einem Stress- und Konfliktbewältigungs-Programm zusammenzuführen, um ein Zentrum für Management-Training und Coaching zu schaffen. Das Modell der Volkswagentochter VW-Coaching war zusätzliche Anregung: Das Team fuhr ins benachbarte Wolfsburg und schaute sich bei der Volkswagen-Tochter an, mit welchen Mitteln dort gearbeitet wurde.
Mit der Rückendeckung des obersten Chefs, den Eindrücken von VW-Coaching und einigen Train-the-Trainer Ausbildungen begann die Braunschweiger Polizei, sukzessive einige dieser Methoden in das eigene System zu übertragen. Wichtig war hierbei der offene Lernprozess. Stets stellte sich die Frage: Was passt und was passt nicht in die Arbeitskultur der Polizei? Das neue „Coaching-Center“ in Braunschweig begann unter anderem mit Management-Trainings und einem Weiterbildungs-Angebot für den Aufbau persönlicher und sozialer Kompetenzen.
Diese Form der Entwicklung in der Polizeidirektion Braunschweig war nicht von oben vorgegeben, sondern ein echter Bottom-Up Prozess. Die Strategie wurde den Polizisten nicht aufgezwungen, sondern entstand aus der Organisation selbst heraus. Einige wenige hatten schlicht die Bedürfnisse vieler erkannt und begannen mit langem Atem, diesen Bedürfnissen mit neuen Lösungen so gerecht wie möglich zu werden.
Widerstand gegen diese Neuerungen gab es natürlich nicht zu knapp: Solche weichen Themen hätten in der Polizei nichts zu suchen, das im Programm gebundene Personal solle lieber Dienst auf der Strasse machen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Mitarbeiter der Polizeidirektion die Antwort auf die simple Frage „Was bringt uns das Ganze?“ von sich aus beantworten konnten. Ganz wichtig für die Etablierung des Reformmodells war, dass alle internen Berater und Trainer „echte“ Polizisten sind, die Felderfahrungen haben. Dadurch können sie die alltäglichen Herausforderungen Ihrer Kollegen authentisch nachvollziehen und verstehen.
Nach erfolgreicher Startphase bildeten sich die Braunschweiger Verhaltenstrainer mit individuellen Zusatzqualifikationen fort – mit den Kernkompetenzen Krisenintervention, Trauma, Mediation, Konfliktmanagement, Supervision, systemische Beratungen, Training Emotionaler Kompetenzen (TEK) und anderen.
Das war nötig geworden, da sich kurz nach Gründung des Coaching-Centers auf tragische Weise gezeigt hatte, dass das Angebot erweitert werden musste. Als 1998 das ICE-Unglück in Eschede über 100 Tote und zahlreiche Verletzte zur Folge hatte, wurde schnell klar, wie wichtig die Nachbetreuung der Kollegen bei traumatisch erlebten Einsätzen ist. Besonders positiv an dem Betreuungsansatz der Braunschweiger ist, dass die internen Berater, die nach belastenden Situationen zur Seite stehen, später auch in „normalen“ Trainings und Beratungen mit den Kollegen zusammen arbeiten. Vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Trainer und Teilnehmenden braucht es dann kaum noch.
Heute ist das Angebot bei der Braunschweiger Polizeidirektion sehr breit. Behandelt werden nicht nur die Themen, die während der Arbeitszeit entstehen, sondern auch die des privaten Umfelds. Wie in allen Teilen der Gesellschaft gibt es auch innerhalb der Polizei Suchterkrankungen, Depressionen, Überforderungen und ähnliche Störungsbilder. Hinzu kommt der die sozialen Bindungen beeinträchtigende Schichtdienst.
Auch viele der Polizisten blicken auf missglückte Beziehungen zurück. Patchworkfamilien werden immer mehr zur Normalität. Die internen Trainer wagen sich auch an diese sensiblen Themen und bieten ihren Kollegen beispielsweise systemische Aufstellungen an.
Die Akzeptanz der 2.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizeidirektion bestätigt den Weg der Initiatoren. In der Polizeidirektion trifft Reformmut mit experimentellem Charakter zusammen. Heute ist die Regionale Beratungsstelle als Nachfolgerin des Coaching Centers zentraler Bestandteil eines ganzheitlichen Gesundheitsmanagements. Der Polizeipräsident und die Führungskräfte stehen weiterhin zu der Idee, deren Rahmenbedingungen sie ermöglicht haben. Auch die Personalvertretungen unterstützen die Prozesse. Es gibt auch Jahre nach dem Programmstart noch Mut und Herzblut für neue Angebote, die auch rege von Mitarbeitern aller Ebenen in Anspruch genommen werden. So kann es heute passieren, dass auch ein 60-jähriger Hauptkommissar noch mit einem Tai Chi-Kurs beginnt.
Die Hartnäckigkeit des Braunschweiger Reformteams hat Früchte getragen. Das hat auch die Außenwelt erkannt. Nach drei Jahren war der Erfolg des Braunschweiger Modells so bekannt geworden, dass die Polizei Niedersachsen im Jahr 2000 bei allen Direktionen sogenannte „Regionale Beratungsstellen“ einrichtete, die sich am Braunschweiger Coaching-Center orientierten. So hat die Idee eines mutigen Teams die Polizeiarbeit eines ganzen Bundeslandes verändert.